Liebe Nachbarn, Freunde, Eltern, Lehrer, Arbeitskollegen

Liebe Nachbarn, Freunde, Eltern, Lehrer, Arbeitskollegen…

Wir möchten mit diesem Informationsblatt Ihre Aufmerksamkeit auf uns, algerische Flüchtlinge, richten, wir, die sich seit einigen Jahren in ihrer Umgebung aufhalten, unsere Kinder in ihre Schulen schicken, dieselben Hausflure mit ihnen teilen, die Räumlichkeiten in ihre Gemeinde benutzen, usw. Wir sind Menschen, die hier Zuflucht gesucht haben und hoffen auf ihre Unterstützung, damit wir, solange die Lage in unser Land so gefährlich ist, weiterhin hier bleiben können.

Wir sind algerische Staatsangehörige, die aus ihrem Land – Algerien – fliehen mußten. Wir haben aus unterschiedlichen Gründen unser Land verlassen: als verfolgte Oppositionelle, als Deserteure von Polizei und Armee, aus Angst vor bewaffneten Gruppierungen und dem schrecklichen Bürgerkrieg. Wir sind nach Deutschland geflohen, da wir gehofft haben, dort vor der Verfolgung Schutz zu erhalten.

Wir haben viele bürokratische und verwaltungstechnische Hürden erduldet und dabei versucht, den Verantwortlichen zu erklären, welche Situation in unser Land herrscht und warum wir um unser Leben und das unserer Familien fürchten. Leider sind alle von uns vorgebrachten Beispiele, die den Krieg in Algerien veranschaulichen sollen, nicht ernst genommen worden. Auch die zahlreichen Berichte von Menschenrechtsorganisationen, wie Amnesty International, Human Rights Watch oder Reporters sans Frontières werden von den deutschen Politikern und Bürokraten nur am Rande zur Kenntnis genommen. Dies hat zur Folge, daß nur etwa 1% der Asylsuchenden aus Algerien Asylr erhalten. Die anderen sollen Deutschland verlassen sobald das algerische Konsulat die Ausreisepapiere ausgestellt hat. Viele sitzen in Abschiebehaft.

Was viele von uns in Algerien erwartet, sollte den deutschen Entscheider sehr wohl bekannt sein. Es gibt genügend Berichte darüber, wie abgeschobene Flüchtlinge aus Deutschland bei ihrer Ankunft in Algerien behandelt werden: Sie kommen in ein Gefängnis, wo sie erst einmal verhört werden. Sie werden willkürlich zusammengeschlagen und gefoltert, oft schon weil sie aus Deutschland kommen und Informationen über die hier verbliebenen Flüchtlinge weitergeben sollen. Sie werden, bevor sie vor Gericht kommen und angeklagt werden (meistens bleiben die Gefangenen ohne Anklage in Haft) wegen ihrer politischen Aktivitäten aber auch Gesinnung bestraft, wobei die Bestrafung im Ermessen des jeweiligen Folterers oder des entsprechenden Sicherheitsdienstes liegt. Es gibt zahlreiche Berichte über abgeschobene Flüchtlinge aus Europa, die « verschwunden » sind. Dies bedeutet, weder die Familie noch der Anwalt wissen über den Verbleib dieser Person, oft stellt sich später heraus, daß sie zu Tode gefoltert wurde. (Siehe im Anhang ein Interview mit dem algerischen Menschenrechtler Ali Yahia Abdennour und den letzten bekannten Fall eines abgeschobenen Flüchtlings aus England).

« Aber die Situation in Algerien hat sich doch gebessert » – werden viele sagen – « vor kurzem haben doch Parlamentswahlen stattgefunden, und der Präsident Zeroual ist doch auch gewählt worden, Parteien sind zugelassen, eine vielfältige Presse sorgt für Meinungsfreiheit… Es kann doch nicht so schlimm sein! »

Was geschieht wirklich in Algerien

Halten Sie einmal inne. So einfach sind die Dinge nicht. Um zu verstehen, was wirklich geschieht, müssen wir ein Paar Jahre zurückschauen und die damaligen Ereignisse analysieren:

Nach 25 Jahren verdeckter Militärherrschaft und Einparteiensystem ist im Oktober 1988 eine Revolte ausgebrochen, die das Regime ins Wanken gebracht hat. Die Menschen sind zu Tausenden auf die Straßen gegangen, weil sie genug hatten von diesem politischen System und soziale und wirtschaftliche Forderungen hatten. Das Militär schoß damals in die Menge, Über 1000 Personen starben, es kam zu Massenverhaftungen, Prügel und Folter wurden angewandt. Doch sah sich die damalige Regierung gezwungen, eine politische Öffnung zuzulassen: Zahlreiche Parteien bildeten sich heraus oder tauchten aus dem Untergrund auf.

Bei den im Juni 1990 stattgefundenen Kommunalwahlen gewann die neu gegründete Front Islamique du Salut (FIS: Islamische Rettungsfront) die Mehrheit. Für Juni 1991 waren Parlamentswahlen vorgesehen. Diese wurden verschoben nachdem die FIS zu einem Generalstreik aufgerufen hatte. Sie wollte damit gegen die Aufteilung der Wahlkreise und das Wahlgesetz protestieren, das der damaligen Einheitspartei Front de Libération Nationale (FLN: Nationale Befreiungsfront) zum Sieg verhelfen sollte. Die Armee schlug erneut zu, ließ Tausende Anhänger der FIS in Lagern einsperren und verhaftete die beiden Führer der Partei: Abassi Madani und Ali Benhadj. Auch zu diesem Zeitpunkt starben Menschen und es wurde wieder gefoltert.

Die Parlamentswahlen fanden schließlich doch im Dezember 1991 statt. Zwar hatte sich die Armeeführung (die hinter den Kulissen das Land regiert) alles zurecht gelegt, und die FIS sollte nicht mehr als ein Drittel der Parlamentssitze erhalten, doch das Kalkül ging nicht auf: schon im ersten Wahlgang bekam die FIS über die Hälfte der Sitze, und es war zu erwarten, daß sie im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichen würde. Die Generäle und die Fraktionen der Gesellschaft, die diesen loyal gegenüber standen, verlangten den Abbruch der Wahlen. Der damalige Präsident trat zurück, das Parlament wurde aufgelöst, der Ausnahmezustand ausgerufen und eine Welle der Gewalt und Verhaftungen durchzog das Land. Die FIS wurde verboten, ihre Anhänger und Sympathisanten zu Tausenden in Lagern gepfercht, mißhandelt oder in den Untergrund getrieben.

Der Krieg in Algerien

Seitdem wird in Algerien einen Krieg geführt, der nicht als solcher bezeichnet wird, da er sich gegen die eigene Bevölkerung richtet. Die Legitimation für diesen Krieg suchen die Befürworter in dem « Terrorismus », der angeblich das Land in Angst und Schrecken versetzt. Es stimmt, daß bewaffnete Gruppen Anschläge verüben, Menschen ermorden und Gebäude anzünden. Aber den größten Terror übt die Militärjunta aus, die mit paramilitärischen Einheiten und Milizen gegen die Bevölkerung vorgeht und nicht selten bewaffnete Gruppen für ihre Greultaten verantwortlich macht. Es finden Massenmorde, Bombardierungen von Dörfern, Napalmeinsätze, erzwungene Umsiedlungen, usw. statt. Seit Beginn dieses Krieges sind etwa 120 000 Menschen getötet worden, Tausende sind verschwunden, an die 200 000 Gefangene, auch in geheimen Gefängnissen, und Tausende sind geflohen, u.a. nach Deutschland. (Siehe Beispiele von Massakern an Zivilisten im Anhang). Die Wochenzeitung The Observer vom 26. Mai 1997 kommt zu dem Schluß, daß das Regime für etwa 70% der Toten verantwortlich ist.

Die Militärführung, die alle legalen Institutionen außer Kraft gesetzt hatte, regierte weiterhin aus dem Hintergrund mit einem eingesetzten « Marionetten-Parlament », einem nicht-gewählten Präsidenten und mit einer Sondergesetzgebung. Dies wurde im Ausland zwar kritisiert, da westliche Mächte doch lieber mit gewählten Regierungen verhandeln, auch wenn diese durch gefälschte Wahlen eingesetzt werden. Algerien ist da keine Ausnahme, zumal die europäischen und amerikanischen Interessen an dem Erdöl und -gas Überlegungen zu den demokratischen Verhältnissen und Menschenrechtsverletzungen eher in den Hintergrund rücken lassen. Hinzu kommt, daß die algerische Regierung ja « Fundamentalisten » bekämpft, Menschen, die hier auch nicht sehr beliebt sind!

Im Januar 1995 trafen sich die größten Oppositionsparteien in Rom (darunter die FIS, die FLN und die FFS: Front des Forces Socialistes) und erarbeiteten eine Plattform, die der Regierung vorgelegt wurde und zur Lösung der Krise in Algerien beitragen sollte. Die Führung in Algier wollte davon nichts wissen, beschimpfte die Teilnehmer dieser Konferenz als « Verräter » und ließ alle Versammlungen in Algerien, die diese Plattform unterstützen wollten, verbieten. Sie mußte allerdings auch in die Offensive gehen, da dieser Zusammenschluß der Opposition in der Bevölkerung Zuspruch zu finden begann und auch im Ausland Stimmen laut wurden, die diese Initiative begrüßten.

Von Inszenierung zu Inszenierung…

Also wurden Präsidentschaftswahlen für Dezember 1995 angekündigt. Die Opposition rief zum Boykott auf, während die Wähler massiv von den offiziellen Stellen unter Druck gesetzt wurden. Sie mußten wählen sonst bekamen sie keine Ausweispapiere; Verwaltungsbeamten wurde mit einer Haftstrafe gedroht, usw.

Am Tag der Wahl waren über 300 000 bewaffnete Kräfte anwesend. Der ernannte Präsident Liamine Zeroual wurde als Sieger bestätigt. Nun hatte Algerien ein legitimes Staatsoberhaupt. Fragen nach dem Wahlablauf und der tatsächlichen Wahlbeteiligung stellte keine europäische Regierung, der Schein genügte allen.

Der folgende « Coup », den sich die Militärjunta einfallen ließ, war ein Referendum, um eine neue Verfassung bestätigen zu lassen. Diese Verfassung sieht die vollständige Aushöhlung der Parlamentsfunktionen vor. Nun sollen zwei Kammern eingerichtet werden, die erste vom Volk gewählt, die zweite zu einem Drittel vom Präsidenten ernannt. Dieses Drittel kann gegen jede Entscheidung der ersten Kammer Veto einlegen. So verkommt das Parlament zu einem Pupentheater, das dem Regime nur zur seiner Legitimation verhilft. Diese Verfassung ist im November 1996 « vom Volk » angenommen worden. Auch da fragte kaum jemand unter welchen Bedingungen das Referendum stattgefunden hat und ob die Urnen nicht « vollgestopft » worden sind.

Nach all diesen « Vorbereitungen » konnten nun endlich am 5. Juni 1997 die seit langem versprochenen Parlamentswahlen stattfinden. Die islamischen Parteien Nahda und Hamas waren gezwungen, ihre Parteinamen und -programme zu ändern, um überhaupt zugelassen zu werden. Die sich in Rom versammelte Opposition (außer der FIS, die weiterhin verboten ist) entschloß sich, an der Wahl zu beteiligen, da sie befürchtete, ein Boykott würde nur dem Regime nutzen. Auch die Basis forderte eine Teilnahme dieser Parteien. Der Präsident hatte sich eine neue Partei Anfang des Jahres zugelegt, die diese Wahl – wie sollte es auch anders sein? – gewinnen würde. Das Spektakel fand wieder einmal unter massiver Anwesenheit von Sicherheitskräften statt. Alle Vorkehrungen und Druckmittel wurden eingesetzt, um die Menschen zum Wählen zu zwingen. Auch die hiesige Presse berichtete über Wahlfälschungen.

Deswegen sind die Ergebnisse nicht weiter überraschend: die Partei de Präsidenten, Rassemblement national démocratique (RND: Nationaldemokratische Versammlung) hat 155 Sitze von 380erhalten. Mit den 64 Sitzen der FLN verfügt sie über eine ausreichende Mehrheit. Auch wenn die Wahlen nicht ganz nach Plan abliefen – vor allem scheint die Wahlbeteiligung doch recht gering gewesen zu sein – kann die Staatsführung sich jetzt mit den « gewählten Institutionen » brüsten.

Der Krieg und die algerischen Flüchtlinge in Deutschland

Währenddessen geht der Krieg weiter, und es gibt keinen Grund, warum er nicht weiter gehen sollte, da sich im Grunde nichts verändert hat: die Opposition wird mundtod gemacht, die Bevölkerung terrorisiert und verängstigt, politische Grundfreiheiten verwehrt, wirtschaftliche Verbesserungen durch die Teuerung und Abschaffung von Arbeitsplätzen verunmöglicht.

Das Militär braucht auch ein gewisses Maß an Krieg, um seine unpopulären Gesetze zu rechtfertigen, die Repression zu erklären und die vom IWF und der Weltbank auferlegten Programme durchzusetzen, die die Bevölkerung weiter verarmen lassen wird und den algerischen Staat weiter von ausländischen Firmen abhängig machen wird. Diese sind allerdings nur an Bodenschätzen interessiert, so daß die Regierung dabei ist, das Land auszuverkaufen, auch um den Krieg zu finanzieren.

Solange die westlichen Staaten direkt – wie Frankreich – oder indirekt das algerische Militär unterstützen, wird sich an der Lage in Algerien nicht viel verändern. Es wird weiterhin gemordet und gefoltert werden. Auch wenn die Menschen hier nichts davon wissen wollen, ist die Verantwortung der Bundesregierung groß. Sie kümmert sich nicht um Menschenrechtsverletzungen, im Gegenteil, im Wissen darum, beabsichtigt sie, Massenabschiebungen durchzuführen. Die Art wie algerische Asylbewerber angehört werden ist bezeichnend für das erklärte Ziel der « Schließung der europäischen Grenzen ». Wir werden in Schnellverfahren abgehandelt und als unglaubwürdig bezeichnet. Im Fachjargon wird unser Asylgesuch als « offensichtlich unbegründet » abgelehnt.

Das Rücknahmeabkommen

Mitte Mai trat das zwischen der algerischen und deutschen Regierung unterzeichnete Rücknahmeabkommen in Kraft. Dieses sieht vor, ganz unbürokratisch größere Gruppen von Algeriern und Algerierinnen, deren Asylverfahren negativ beschieden sind, abzuschieben. Die algerischen Vertretungen sollen notwendige Papiere austellen (Laissez-Passer), auch ohne Paßbilder, Fingerabdrücke und Nachprüfung der Staatsangehörigkeit. So soll eine « nachhaltige Vermutung » zur Ausstellung des nötigen Papieres ausreichen. Da die deutschen Behörden Widerstand von abzuschiebenden Flüchtlingen befürchten, überlassen sie die schmutzige Arbeit den algerischen Sicherheitskräften, denen erlaubt wird, auf deutschen Flughäfen tätig zu werden.

Die Situation der abgelehnten und abzuschiebenden Asylbewerber wird darauf reduziert, daß sie sich illegal in Deutschland aufhalten.

Nicht die Frage nach der « Behandlung » bei der Ankunft des Flüchtlings in Algerien beschäftigt das Bundesinnenministerium, sondern seinen reibungslosen Abtransport.

Es leben etwa 23 000 algerische Flüchtlinge hier, die von diesem Abkommen betroffen sind. Zwar wurde vorerst von einer Zahl von 7 000 Personen gesprochen, die unmittelbar abgeschoben werden sollen, doch ist klar, daß die Bundesregierung sich von möglichst allen Flüchtlingen entledigen will, wie auch schon die Abkommen und Praxis mit anderen Ländern zeigen. (Siehe im Anhang Erklärungen zum Abkommen).

 

Weitere Literatur

Initiative gegen Abschiebehaft in Berlin: Algerien: Staatliche Gewalt und Repression in Algerien, algerische Flüchtlinge in Deutschland, herausgegeben von Pro Asyl, Postfach 101843 Frankfurt/Main. August 1996, 13,- DM.

Amnesty International: Algerien, Angst und Schweigen, Eine Menschenrechtskrise im Verborgenen, November 1996, 6,- DM.

Livre Blanc de la Repression en Algérie (1991-1994), drei Bände zu beziehen bei Hoggar Print, Route Saconnex-d’Arve 110, 1228 Plan-les-Ouates, Schweiz.

Le livre noir de l’Algérie, zusammengestellte Berichte u.a. vom amerikanischen Außenministerium, Human Rights Watch und Reporters sans frontières, Paris 1996, zu beziehen im Büro von Reporters sans frontières, Oranienstr. 24, 10999 Berlin, 27,-DM.

Silsila, Zeitschrift gegen Rassismus und Imperialismus, Doppelheft 6/7 (1996) hat ein fast 100-seitiges Dossier zu Algerien herausgebracht, c/o Buchladen, Gneisenaustr. 2a,10961 Berlin, 14,- DM.

Reporters sans frontières: Algérie, la guerre civile à huis clos, März 1997.

 

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