Unklare Ursachen des Mordens in Algerien

Unklare Ursachen des Mordens in Algerien

Massive Vorwürfe an die Adresse des Regimes

Neue Zürcher Zeitung AUSLAND Samstag, 23.05.1998

Dem algerischen Drama ist zurzeit eine Veranstaltungsreihe in der Roten Fabrik in Zürich gewidmet. Auf die Frage nach der Ursache des Mordens konnten aber auch Fachleute keine Antwort geben. Immer mehr zur Gewissheit wird, dass nicht nur islamische Extremisten, sondern auch das algerische Regime für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist.

stf. Es scheint zur Natur des Konflikts in Algerien zu gehören, dass alles in einem undurchsichtigen Nebel verschwindet und klare Konturen kaum mehr auszumachen sind. Immer deutlicher zeigt sich aber, dass die algerische Militärregierung an diesem mörderischen Konflikt eine schwerwiegende Verantwortung trägt und sich selbst massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat. Für diese These legte am vergangenen Sonntag in der Roten Fabrik in Zürich der algerische Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist Mohammed Tahri eindrückliche Fakten auf den Tisch. In einem Seminar für Medienschaffende, Hilfswerkvertreter und interessierte Kreise berichtete Tahri auf beklemmende Weise von seinen täglichen Erfahrungen mit einem Regime, dem elementarste Menschenrechte und Grundprinzipien der Rechtsprechung wenig bis nichts zu gelten scheinen.

Systematische Repression

Der Anwalt, der sich selber nicht der islamistischen Szene zuordnete, zeichnete ein Bild von der Entwicklung der algerischen Justiz seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes im Jahr 1992. Befand sich die algerische Justiz schon vor diesem Zeitpunkt unter weitgehender Kontrolle der Regierung und damit der Armee, so wurden laut Tahri seither zahlreiche Neuerungen eingeführt, die sowohl grundlegenden Regeln der Rechtsprechung wie auch dem geltenden algerischen Recht klar widersprechen. Tahri erwähnte die willkürlichen Verhaftungen von Islamisten allein auf Grund ominöser Listen und deren rechtswidrige Internierung während Monaten oder gar Jahren. Er sprach von Sondergerichten, von der Erpressung von Geständnissen, von Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, vom Verschwindenlassen von Personen. Die Folter in Polizeikommissariaten sei in Algerien gängige Praxis geworden, und nicht einmal schwangere Frauen oder Jugendliche würden verschont. Für all dies gebe es mittlerweile unzählige Beweise, erklärte Tahri. Anwälte, die sich gegen solche illegale und menschenverachtende Praktiken zur Wehr setzen, und Richter, die nicht bereit seien, die ihnen von den Machthabern zugedachte Rolle zu spielen, gingen ihrerseits ein hohes Risiko ein.

Tahri berichtete in diesem Zusammenhang von seinen persönlichen Erfahrungen als Anwalt: von Übergriffen der Polizei, von handfesten Behinderungs- und Einschüchterungsversuchen, von Telefongesprächen, die jeweils just im entscheidenden Moment unterbrochen wurden, von Morddrohungen. Er verwies schliesslich auf die lange Liste von Anwälten und Richtern, die in den letzten Jahren umgebracht worden seien. Die Justiz in Algerien habe nicht mehr die Aufgabe zu richten, sondern sie verurteile, um damit die Gewalt des Staates zu rechtfertigen. Die Frage aus dem Publikum, ob er denn unter solchen Umständen nicht um sein Leben fürchte, beantwortete Tahri mit dem lapidaren Satz, seine Arbeit bringe ihn tatsächlich in Gefahren, doch in Algerien könne heute jede Person zum Opfer werden. Sollte die Kritik Tahris in den wesentlichen Punkten zutreffen – und es gibt leider kaum Grund, daran zu zweifeln -, so dürfte sich die algerische Regierung früher oder später mit einer äusserst schweren Hypothek auseinanderzusetzen haben.

Verantwortung der Islamisten

Die Verbrechen der Gegenseite – des Groupe islamique armé und anderer Gruppierungen – sind laut Tahri ebenfalls unbestreitbar. Doch im Gegensatz zu den schrecklichen Vorkommnissen in Polizeikommissariaten, Gerichtssälen und Internierungslagern existiere darüber nur wenig verlässliches Beweismaterial. Erwiesen sei hingegen, dass die Regierung immer wieder versuche, Attentate den Islamisten zu Unrecht in die Schuhe zu schieben. In Tat und Wahrheit lasse sich in vielen Fällen nicht ausmachen, wer die Urheber der grässlichen Anschläge seien; auch für gut informierte Kreise bleibe die Lage undurchschaubar.

In Gruppengesprächen mit Tahri und der deutschen Sprachwissenschafterin und Autorin Sabine Kebir zeigte es sich deutlich, dass die Mehrheit der algerischen Teilnehmer aus dem islamistischen Umfeld stammten. Dies war von den Organisatoren der Tagung, einer lockeren Gruppierung von Intellektuellen, die unter dem Namen «Diwan» auftritt, nicht so geplant. Doch von der algerischen Botschaft war niemand zur Teilnahme am Seminar bereit. Und die Algerier, die sich weder dem einen noch dem andren Feld zuordnen wollen, waren praktisch nicht auszumachen. So war eine gewisse Schlagseite unvermeidlich, und die Verantwortung der islamistischen Seite für die verhängnisvolle Entwicklung wurde zu wenig ausgeleuchtet. Der Aufforderung des Diwan-Exponenten Daniel Hitzig, die Positionen und Entscheide der islamistischen Seite doch im Rahmen dieses Seminars einmal kritisch unter die Lupe zu nehmen, wurde leider kaum entsprochen. Statt dessen kam es immer wieder zu heftigen Wortgefechten, bei denen meist Sabine Kebir als Vertreterin der konsequent laizistischen Richtung als Zielscheibe diente.

Etwas versöhnlicher gestaltete sich die Schlussrunde des Seminars. Auf grosse Zustimmung stiess die Forderung nach Einsetzung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission zur Abklärung der Verbrechen. Einigkeit herrschte auch darüber, dass von Regierungsseite bis jetzt noch kein Interesse an echten Verhandlungen mit den Islamisten besteht. Im Gegenteil: Er spüre einen schrecklichen Willen, eine friedliche Lösung des Konflikts zu verhindern, erklärte Tahri zum Schluss der Veranstaltung. An einer Podiumsdiskussion mit prominenten algerischen Politikern soll am kommenden Sonntag der Frage nachgegangen werden, wie unter den gegebenen Umständen dennoch eine Lösung gefunden werden kann. Diwan hat dazu unter anderem Hocine Ait Ahmed und den FIS-Sprecher Abdelkarim Ouldadda eingeladen.