Algeriens rätselhafte Massaker

Algeriens rätselhafte Massaker

Danny Leder, Paris, Kurier Online, 28.12.2000

Es ist wohl das Schrecklichste, was in letzter Zeit in Algerien bekannt wurde: Bisher nicht identifizierte Attentäter drangen vor einer Woche in den Schlafsaal eines Technischen Gymnasiums in der Stadt Medea ein und töteten 16 Schüler und einen Betreuer. Vergeblich hatten die Kinder unter ihren Betten Zuflucht gesucht. « Wir haben der Schule unsere Kinder zum Lernen anvertraut und bekommen sie in Särgen zurück », klagte ein gebrochener Vater.

Nachdem in den letzten Jahren der algerische Bürgerkrieg zwischen radikal-islamischen Freischärlern und Militärs abgeflaut war, brachte der soeben beendete moslemische Fastenmonat Ramadan wieder serienweise Gemetzel: Die Erschießung von Buspassagieren bei Straßensperren, einen Bombenanschlag auf Trauernde auf einem Friedhof oder den grauenhaften Überfall auf ein Tanzlokal in Anaba, wo eine 24-jährige Sängerin mit einem Schwerthieb geköpft wurde. Insgesamt wurden während des Ramadan mehr als 300 Menschen getötet. In der ersten Hälfte des Fastenmonats starben vor allem Angehörige der Sicherheitskräfte. Die Ramadan-Periode gilt bei den Islamisten, die das Regime in Algier seit 1992 gewaltsam bekämpfen, als ideale Zeit für den « Heiligen Krieg ». Aber in der zweiten Hälfte des Ramadan wurden hauptsächlich Zivilisten umgebracht. Die Behörden beschuldigen auch da die Islamisten, aber etliche Beobachter sprechen von Intrigen hoher Militärs gegen Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika.

Bouteflika kam zwar 1999 mit Unterstützung der Militärs und durch Wahlschwindel an die Macht, erregte aber seither durch Eigenwilligkeit das Misstrauen der Armee. So erließ er ein höchst umstrittenes Amnestiegesetz, das 5000 islamischen Untergrundkämpfern die Rückkehr ins Zivilleben gestattete. Theoretisch sollte die Amnestie nur für Personen gelten, die keine Blutverbrechen begangen hatten, womit vor allem Anschläge auf Zivilisten gemeint waren. De facto gab es aber keine Auslese unter den Freigelassenen. Das erboste Militärs und Terroropfer. Die Teil-Amnestie beruhigte aber auch nicht die Tausenden Familien, deren Angehörige von Sicherheitskräften entführt, gefoltert und oft getötet worden waren.

Die Legalisierung der Islamischen Heilsfront (FIS) scheint für Bouteflika nicht in Frage zu kommen. Das Verbot dieser stimmenstärksten Partei Algeriens und die Unterbrechung der Parlamentswahlen durch die Militärs hatten 1992 den Bürgerkrieg ausgelöst. Immerhin aber plante der Präsident die Freilassung des bedeutenden FIS-Predigers Ali Belhadj. Obendrein genehmigte er einen Besuch von Amnesty International in Algier. Die Menschenrechtsorganisation forderte dabei die Einvernahme führender Militärs. Grund genug, so Kenner des algerischen Machtgefüges, um bei den Generälen Wut auszulösen.

« Die Militärs verdächtigen Bouteflika, dass er sich auf ihre Kosten mit den Islamisten verständigen möchte », urteilt der franko-algerische Soziologe Lahouari Addi. Deshalb könnte die Armee den Druck auf die restlichen Freischärler absichtlich verringert haben, was das Wiederaufleben der Anschläge erklären würde. Ziel des Manövers: Bouteflikas Versöhnungspolitik als gescheitert darzustellen, um ihn absetzen zu können. Addi wagt sich noch weiter vor: Die Morde an Zivilisten seitens angeblicher Islamisten seien das Werk verkleideter Militärs. Sie würden sich so an Teilen der Bevölkerung rächen, die mit den Freischärlern sympathisieren.