Neue Bücher über die Krise in Algerien

Neue Bücher über die Krise in Algerien

Neue Zürcher Zeitung POLITISCHE LITERATUR Dienstag, 01.12.1998 Nr. 279 69

ach. Den algerischen Sicherheitskräften ist es, entgegen aller von Regimevertretern zur Schau gestellten Siegeszuversicht, bis heute nicht gelungen, den Terroraktivitäten bewaffneter Islamisten ein Ende zu setzen. So offensichtlich ist dieser Fehlschlag, dass sich der Verdacht aufdrängt, die hinter einer demokratisch-pluralistischen Fassade weiterhin alle Fäden ziehenden Offiziere hätten letztlich gar kein Interesse daran, den Terroristen das Handwerk zu legen. Frieden würde nämlich bedeuten, dass über ihre Macht und ihren Einfluss, über ihre Legitimität und ihre Stellung in der Politik offen diskutiert würde und dass sie befürchten müssten, ihre grotesken sozialen und wirtschaftlichen Privilegien zu verlieren. Auch hätten sie angesichts ihrer brutalen Menschenrechtsverletzungen mit Gerichtsverfahren zu rechnen. Jedenfalls haben die Offiziere es bis heute abgelehnt, einen politischen Ausweg aus der Krise zu beschreiten.

Die Rolle der Gemeinschaft St. Egidio

Einen solchen Ausweg gibt es; mehrere algerische Oppositionsparteien, darunter auch der Front islamique du salut (FIS), haben ihn in der Plattform von Rom 1995 aufgezeigt. In dem Dokument, das auf Anregung der katholischen Laiengemeinschaft St. Egidio zustande gekommen ist, vermeiden die Unterzeichner jegliche Schuldzuweisung; sie setzen sich für Verhandlungen zwischen dem Regime und der Opposition unter Einschluss des FIS ein, die zur vollen Wiederherstellung der Volkssouveränität in freien Wahlen führen sollen. Die Teilnehmer an diesen Friedensverhandlungen hätten unter anderem Gewalt als Mittel zur Ergreifung und Sicherung der Macht abzulehnen, für die Nichteinmischung der Armee in politische Angelegenheiten einzutreten und zu versprechen, die individuellen und kollektiven Grundfreiheiten zu respektieren. Ausserdem verlangen die Unterzeichner der Plattform von Rom die Durchführung vertrauensbildender Massnahmen, darunter die Freilassung aller inhaftierten Führer des FIS, die sofortige Abschaffung der Folter und ein Moratorium beim Vollzug der Todesstrafe. Nichts, am allerwenigsten das schroffe Nein aus Algier, vermag zu verdecken, dass die in der Plattform enthaltenen Vorschläge realistisch sind.

Nun liegt erstmals ein Buch vor, das die Entstehungsgeschichte der Plattform von Rom und den Beitrag der Gemeinschaft St. Egidio ausleuchtet. Die beiden Autoren, Marco Impagliazzo und Mario Giro, gehören zu den Initianten der Römer Gespräche; sie sind mit den darin involvierten algerischen Persönlichkeiten bestens vertraut. Mehr noch als in der Schilderung des Treffens liegt der Wert des Buches in der sorgfältigen und kenntnisreichen Analyse der algerischen Krise. Wenn etwas an dem unter dem Titel «Algerien als Geisel» auch auf deutsch vorliegenden Buch auszusetzen ist, so an der Übersetzung, die allzu stark am Wortwörtlichen klebt. So wird der im algerischen Kontext häufig verwendete französische Begriff «Pouvoir» wörtlich mit «Macht» übersetzt. Gemeint ist aber stets die Offizierskaste, die sich seit der Unabhängigkeit Algeriens als alleinige Interpretin und Vollstreckerin des Volkswillens aufführt. […]

Marco Impagliazzo/Mario Giro: Algerien als Geisel. Zwischen Militär und Fundamentalismus – ein schwieriger Weg zum Frieden. Lit-Verlag, Münster 1998. 302 S.